Mit meinen Eltern stand ich lange Zeit auf Kriegsfuß – um genau zu sein: bis zu meinem 34. Lebensjahr. Allgemein empfand ich großen Mangel an Liebe. Das erklärt auch, weshalb ich so lange nach dem Ersatz für meine Eltern suchte und ständig Verhältnisse mit älteren Personen einging. Da es mir an Selbstvertrauen und Stabilität fehlte und ich außerdem noch den Hang zu Drogen hatte, bot ich ein leichtes Ziel für Manipulationen. Außerdem suchte ich ständig nach Bestätigung und wollte akzeptiert werden. Aber niemand konnte die Lücke füllen die der Zwist mit meinen Eltern hinterlassen hatte. Allgemein war ich lange Zeit der Meinung meine Eltern hätten alles getan für mich, außer das Nötigste: mich abzutreiben. Sie behaupteten immer, dass ich gewollt war und dass sie mich lieben. Ich kam mir aber die meiste Zeit meiner Kindheit vor wie eine lästige Krankheit. Wie etwas, womit man sich zwar abgefunden, das man dennoch aber nicht liebgewonnen hat.“ Zumindest kam mir das eine Zeitlang während der Aufarbeitung meiner Kindheit so vor. Obwohl sich meine Eltern immer um mich Sorgen machten. Ihr größtes Anliegen war, dass ich es besser im Leben haben würde als sie es hatten. Deshalb legten sie auch großen Wert auf gute Schulnoten und begrüßten mich während den ersten Jahren der Grundschule mit dem Hosengürtel, wenn die Noten ihnen nicht passten; was ich ihnen lange Zeit vorwarf. Mein Vater wurde nicht anders erzogen, gab mir weiter, was er selber gelernt hatte. Meine Mutter wiederum hatte einen anderen Spleen. Hier muss ich einschieben, dass sie erst 21 Jahre alt war, als sie mich zur Welt brachte – dazu noch fern von ihren Freunden und Verwandten, in einem Land, dessen Sprache sie nicht verstand und mit Nachbarn die uns auf dem Kieker hatten - so empfand sie es zumindest. Ihr Mann – mein Vater – war die meiste Zeit arbeiten. Drei Jahre später kam mein jüngerer Bruder zur Welt. Meine Eltern waren völlig überfordert.
Um mir das Lesen beizubringen, schlug meine Mutter mir am Schreibtisch an den Hinterkopf und wiederholte es, wenn ich ihr nicht folgen konnte. Voller Ungeduld schüttelte sie mich, keifte und schrie und schlug mir immer wieder an den Hinterkopf. Und das alles nur, weil ich mich vor der Klasse nicht als Legastheniker outete und meiner Mutter erzählte, dass alle Deutschen Kinder lesen können, nur ich nicht. Das empfand meine Mutter als Affront. Sie als Polin wollte nicht als Rabenmutter gelten - so ihre Auffassung von der Situation. Und so legte sie großen Wert darauf mir mit Schnelligkeit das Lesen beizubringen, wenn nötig auch mit Gewalt. Anfangs wehrte ich mich noch, schlug zurück. Doch auch darauf hatte sie schon eine Antwort. "Wenn du mich noch einmal schlägst, erzähle ich das Vater, wenn er von der Arbeit zurückkommt. Und dann kannst du was erleben!" Ich wusste was das bedeuten würde: "Geh schonmal in unser Schlafzimmer, zieh die Hose hoch und bück dich." Tatsächlich wunderte ich mich jedes Mal über mich selbst, wenn ich diesem Befehl folgte, statt einfach die Wohnung zu verlassen. Das ging so weit, dass ich sogar überlegte freiwillig in ein Weisenheim zu gehen, um der Situation im Elternhaus zu entkommen. Stattdessen ertrug ich ihre Schläge und die Ungeduld und versuchte ihren Worten wie ein Sklave zu folgen. Dabei wunderte ich mich jedes Mal warum sie an ihrer Strumpfhose zupft und was das mit den Beinen auf sich hatte. Das kam hinzu! Nicht nur die unterdrückte Wut die sich in meinem Bauch anstaute, sondern auch noch die für mich nur schwer, ja, eigentlich - einzuordnen - unmögliche Wahrnehmung.
Eigentlich war ich selbst schuld – so wurde es mir vermittelt. Ich hätte mich ja vor der Klasse an der Tafel outen können, sagen können, dass ich nicht lesen konnte. Stattdessen ließ ich mich von meiner Mutter belehren. Ließ mich krankschreiben und malträtieren. Nach dieser Lernmaßnahme erzählte ich meinem Klassenkameraden auf dem Schulweg, dass ich mir wünschte meine Eltern seien tot. Ich dachte er würde mir einstimmen, sind wir Kinder doch sicherlich alle gleich. Genauso wie alle Eltern auch gleich sind. Doch er sprang erschrocken zur Seite und gab mir damit zu verstehen, dass mit mir etwas nicht stimmt. Ab dem Tag würde ich von seinen Eltern täglich zum Mittagessen eingeladen. Vermutlich versuchten sie meine Eltern zu entlasten.
Nach dieser Erzählung kann sich der Leser vorstellen unter welchem Leistungsdruck ich litt. Das gipfelte naturgemäß in der Tatsache, dass ich überall der Beste sein wollte – und das laut Notensystem auch in der Grundschule wurde, und ging so weit, dass ich mich kreischend aus einem Traum in der Nacht losriss in dem mein eben angedeuteter Klassenkamerad in Sport eine bessere Schulnote bekam als ich - so weit war der Narzissmus in meiner Kindheit bereits fortgeschritten.
Gegen die Aggressionen meiner Mutter lernte ich, mich still zu verhalten. Doch je mehr Zeit ich mit ihr allein verbrachte, desto überforderter schien sie. Irgendwann verzichtete sie auf Schläge und entdeckte eine neue Taktik für sich: „Wenn du nicht tust, was ich sage, gehe ich. Für immer. Und du bist daran schuld.“
Sie tat es tatsächlich. Einmal. Zweimal. Beim dritten Mal spürte ich, wie ich mich innerlich von ihr distanzierte. Ich freute mich nicht mehr, wenn sie wiederkam. Tatsächlich hoffte ich sie würde wegbleiben, weil das für mich leichter gewesen wäre als diese ständige Liebesentzug-Nummer. Jedes Mal, wenn sie wieder die Wohnung verließ und mich zurückließ, riss in mir etwas. Das ging so weit, dass die Farben um mich herum sogar verblassten, als sei sie bereits verstorben; was ich auch so viele Jahre später in die Bögen einer Suchtklinik schrieb. Viele Jahre blockte sie jeden Vorwurf von mir ab, bis ich irgendwann lernte mich in sie hineinzuversetzen und zu versuchen sie zu verstehen. Von da an entschuldigte sie sich von selbst. Vielleicht auch, weil sie selber eine Therapie machte.
Als ich Grundschüler war widerfuhr mir eine noch andere gemeine Ungerechtigkeit an die ich mich heute erinnere und die Zeit in Anspruch nahm verstanden, akzeptiert und verziehen zu werden. Ich glaube, es begann an einem Nachmittag in meinem Kinderzimmer. Ich war noch klein – jünger als acht. Es war einer dieser Nachmittage, an denen die Sonne zu grell durchs Fenster fiel, und alles war irgendwie ... zu laut. Mein Bruder und ich hatten gespielt – kindlich, neugierig, ohne Maßstab für richtig oder falsch. Dann sprach er mit unserem Vater darüber.
Was danach geschah, hat sich in meine Erinnerung eingebrannt wie ein glühendes Eisen: Mein Vater stand plötzlich in der Tür, seine Augen voller Abscheu. Er sah mich an, als wäre ich ein Monster, und sagte nur: „Du bist ein Scheusal. Widerwärtig.“
Ich verstand nicht, was genau ich getan hatte. Aber seine Worte brannten sich ein. "Widerwärtig!" Scheusal!" Ich fühlte mich schuldig, beschmutzt, falsch in meiner eigenen Haut. Damals konnte ich nichts einordnen. Kein Erwachsener erklärte mir etwas. Es blieb bei diesem Satz – wie ein Urteil ohne Prozess.
Allgemein fürchtete ich mich vor meinem Vater meine gesamte Kindheit lang. Das ging so weit, dass ich mich mit einem Hosengürtel aufhängen wollte, als mir meine Klassenlehrerin auf dem Gymnasium verkündete, dass ich das achte Schuljahr nicht bestehen würde. Tatsächlich passierte nichts, als meine Eltern vier Wochen später davon erfuhren. Im Gegenteil – sie machten sich eher Sorgen. Trotzdem wusste ich, dass mein Vater bei Ungehorsam immer noch an die Decke fahren konnte und so kam es, dass er auf mich drauf sprang, als ich im Bett lag, nachdem er bei mir Gras gefunden hatte und versuchte mir ins Gesicht zu schlagen. Meine Mutter stand daneben und schrie in einer Tour: „Du bist nicht mehr mein Sohn. Was sollen die Nachbarn von uns denken?“ Sie hielten mich aufgrund der 50 Gramm Gras in meiner Schublade für einen Kriminellen, fragten mich sogar, ob sie mich bei irgendeiner Gruppierung freikaufen müssen. Auf diese Weise bekam ich alles, was an meinen Eltern in deren Kindheit falsch gemacht wurde, doppelt und dreifach ab und deshalb war die Aussprache und Konfrontation mit all dem Shit so überlebensnotwendig für mich.
Oma mütterlicherseits in Polen
Den krassen Kontrast zu meinen Erfahrungen in Deutschland bot das Leben in den Schulferien bei meiner Oma mütterlicherseits in Polen. Dort wurde ich verwöhnt und durfte machen, was ich wollte. Außerdem lebte dort mein bester Freund Adam mit dem ich meine erste Videokassette in den Rekorder schob, um einen Film zu schauen. Das war noch vor den 2000er Jahren. Ich war damals sechs Jahre alt. Adam war der Nachbar von meiner Oma, die in einer Stadt in Polen lebte, die für ihr Kohle- und Kupferwerk bekannt ist. Adam hatte drei ältere Brüder und dadurch hatte er Zugang zu Karate-Filmen, die eigentlich für sechzehnjährige gedacht waren. Zusammen schalteten wir den Flimmerkasten ein und ließen alles aus der Mattscheibe in unser Unterbewusstsein sickern. Ich erinnere mich an den Handlungsstrang des ersten Filmes noch sehr genau, auch wenn ich den Titel nicht mehr weiß. Es war die klassische Heldengeschichten und der Plot handelte von einen Mann, der vom Schwächling zu einer Kampfmaschine trainiert wird und gegen sein Erzfeind (den Bösewicht des Films) einen Kampf gewinnt und dadurch das Herz seiner Traumfrau erobert. So wie es in dem Film dargestellt wurde, dachte ich, sehe ein erfülltes Leben aus. Man muss gegen andere Männer in den Ring steigen und um das Herz einer Frau kämpfen. Schnell fingen Adam und ich an draußen Turnübungen zu machen und zu trainieren. Wir bereiteten uns auf den unvermeidbaren Kampf vor, bis ich eines Tages auf die dumme Idee kam Adam zu einem Kampf herauszufordern. Als Traumfrau diente das rothaarige Mädchen aus der Nachbarschaft. Als Kampfring diente uns der Sandkasten - jeder in seine Ecke, wie in einem Boxring. Hinter unseren Rücken standen die jeweiligen Trainer und massierten unsere Schultern und gaben uns ein paar motivierende Worte für den Kampf mit. Alles wie in den Filmen gesehen. Die anderen Kinder versammelten sich um den Sandkasten und feuerten uns an. Der Kampf dauerte einen Faustschlag auf meine Nase. Ich ging blutend zu Boden und heulte, wie am Spieß. Der arme Adam entschuldigte sich tausend Mal bei mir, obwohl ich derjenige war der ihn zum Kampf großmäulig herausgefordert hatte. Adam entschuldigte sich sogar bei meiner Oma. Ihm war auch die rothaarige Nachbarin egal. Zu meiner Verwunderung kam der ältere Bruder der Nachbarin auf mich zu und meinte, ich hätte Heldenmut bewiesen und dürfe daher seine Schwester heiraten. Daraufhin flechteten die Mädchen aus der Nachbarschaft aus den Blumen auf der Wiese Kränze für die Hochzeit. Die Jungs dagegen sammelten Groschen von der Straße, um eine Limonade für die Feier zu kaufen. Ein etwas älterer Junge mit einer Fluppe im Mund wurde als Pfaffe bestellt und die Hochzeit konnte auf der Wiese unter strahlender Sonne stattfinden. Zwei Tage später reichte ich bei dem Bruder des Mädchens die Scheidung ein. Natürlich nicht ohne Hemmungen und das ganze war auch mit etwas Scham verbunden. Eine Woche später zog das Mädchen mit ihrer Familie um. Und alles nahm wieder seinen gewohnten Lauf. Ich traf mich täglich draußen mit Adam zum Spielen und wir verbrachten Fahrrad fahrend, Katzen hinterher jagend, Chips oder Eis essend oder Fußball spielend bis die Sonne unterging.